menschliches Verhalten: Zwischen Kooperation und Konkurrenz

menschliches Verhalten: Zwischen Kooperation und Konkurrenz
menschliches Verhalten: Zwischen Kooperation und Konkurrenz
 
Das Verhältnis von Natur und Kultur beschreibt der Biologe Hubert Markl so: »Jede funktionierende Kultur ist eine vollwertige und gleichwertige Manifestation unserer Natur. Natur ist nicht das Erdgeschoss oder gar der Keller für das Gebäude der Kultur: Sie ist das Haus, das Kultur mit Menschenleben bereichert und ständig weiter ausbaut«. Diese beiden Instanzen sollen im für die abendländische Denktradition so nachhaltig prägenden cartesianischen Weltbild durch einen unüberbrückbaren Gegensatz getrennt sein. Danach treffen in uns Menschen mit unserer Natur und Kultur zwei Sphären aufeinander, die genauso wenig miteinander zu tun hätten wie Materie und Geist, wie Descartes noch glaubte. Aus der Sicht der Evolutionsbiologie stellt sich demgegenüber tierliche und menschliche Kultur als Teil der biologischen Ausstattung dar. In dieser Sicht gibt es keinen Platz für einen cartesianischen Dualismus, im Gegenteil, es ist uns geradezu natürlich, unsere Lebensanforderungen durch Kultur zu bewältigen.
 
Konkurrenz innerhalb von Lebensgemeinschaften: Das Streben nach kulturellem Erfolg
 
Weiter heißt es bei Markl: »Darauf eben beruht ja der überragende evolutive Erfolg unserer Art, dass ihre Mitglieder in der Kulturevolution auch ihre biologische Fitness viel wirkungsvoller dadurch fördern konnten, dass sie nicht einfach genetisch vorbestimmten Fitnessoptimierungsstrategien folgten, sondern ihre relativ grob durch die ihnen innewohnenden Sehnsüchte, Gefühle, Begierden vorgegebenen biologischen Bedürfnisse — der Selbsterhaltung und der Vermehrung — durch Verfolgung weitgehend kulturell bestimmter Vorstellungsziele befriedigten«. Kultur erscheint so als Strategie des »egoistischen Gens«, als proximater Wirkmechanismus im Dienst des uralten und mit Leben untrennbar verbundenen ultimaten Zwecks: bestmögliche Weitergabe des eigenen Erbguts. Für die provokante These, wonach Kultur im Durchschnitt »an der Leine biologischer Fitnessimperative« bleiben soll, haben Soziobiologen inzwischen zahlreiche Belege aus historischen, traditionellen und modernen Kulturen zusammengetragen, zum Beispiel von den südamerikanischen Yanomami-Indianern.
 
Sozialer Erfolg erhöht den Reproduktionserfolg
 
Die Yanomami siedeln im oberen Orinoko-Gebiet im Grenzgebiet von Venezuela und Brasilien und gelten als ziemlich gewaltbereit. Nach den Erhebungen des amerikanischen Anthropologen Napoleon Chagnon sterben 30 Prozent aller erwachsenen Männer eines gewaltsamen Todes. Die Anlässe für gewalttätige Auseinandersetzungen unter Männern kreisen häufig um den Bereich Ehe, Sexualität und Eifersucht. Wenn es darum geht, nicht eingehaltene Eheversprechen einzufordern oder Frauen aus Nachbarsiedlungen zu rauben, können Yanomami-Männer eine außerordentliche Aggressivität entwickeln. Wie häufig wird in traditionellen (und teilweise auch in modernen) Gesellschaften Mord durch Blutrache gesühnt, was zur hinlänglich bekannten und verheerend wirkenden Spirale von Gewalt und Gegengewalt führen kann. Die kanadischen Psychologen Martin Daly und Margo Wilson schätzen, dass Blutrache das Motiv Nr. 1 aller Tötungsdelikte während der vormodernen Menschheitsgeschichte gewesen ist.
 
Die Blutrache der Yanomami findet häufig überfallartig statt, wobei sich eine Gruppe von 10 bis 20 Männern auf den Weg zu den vorgesehenen Opfern macht. Typischerweise wird das erste Mitglied der feindlichen Gemeinschaft, auf das man trifft, aus dem Hinterhalt mit Pfeil und Bogen erschossen. Manchmal kommt es aber auch zu Massakern mit zehn oder mehr Opfern. Nach erfolgtem Überfall zieht man sich Schutz suchend schleunigst ins eigene Dorf zurück. Wer getötet hat, unterzieht sich anschließend einer besonderen Zeremonie und bekommt dadurch den sozial hoch angesehenen Status eines unokai. In den von Chagnon besuchten Dörfern hatten 44 Prozent aller Männer über 25 Jahre diesen besonderen Status inne. 60 Prozent aller unokais haben nur einmal, 40 Prozent mehrfach getötet, davon einer sogar 16-mal.
 
Auf den ersten Blick erscheint dieses Beispiel im krassen Widerspruch zu allen soziobiologischen Annahmen der Fitnessmaximierung. Wie könnte es dem »egoistischen Gen« nützlich sein, wenn eine Gesellschaft wie die der Yanomami zu einer kulturellen Wertschätzung von tödlicher Aggressivität gelangt, der immerhin fast ein Drittel der Männer zum Opfer fällt? Arbeitet hier die Kultur nicht ganz offensichtlich gegen jeden biologischen Imperativ der Selbsterhaltung und Fortpflanzung?
 
Überraschenderweise muss die Antwort nach einer genaueren Analyse des ethnographischen Materials »Nein« lauten, denn die Gewaltbereitschaft der Yanomami-Männer hat zunächst die Funktion des Selbstschutzes. Es zeigte sich, dass die Dörfer, deren Männer Stärke demonstrieren, tatsächlich mit geringerer Wahrscheinlichkeit angegriffen werden als die, deren Männer als »Hasenfüße« gelten. Auf lange Sicht hätte folglich eine Dorfgemeinschaft, die von der kulturellen Wertschätzung der Aggressivität abrückte und einen friedlicheren Weg versuchte, unter den vorherrschenden Lebensbedingungen keine Chance. Interessanter noch ist aber ein zweiter Zusammenhang, der erst beim Vergleich des ganz persönlichen Reproduktionserfolgs der kriegerischen unokai, mit dem der übrigen Männer voll ersichtlich wird. Während nämlich alle unokais im Mittel mit 1,6 Frauen verheiratet waren, kamen auf jeden Nicht-unokai im Mittel nur 0,6 Frauen. Dieser Unterschied spiegelt sich in der Kinderzahl wider: unokais hatten im Durchschnitt 4,9 Kinder, Nicht-unokais hingegen nur 1,6. Mit anderen Worten: Wer der kulturellen Norm gefolgt ist und sich an den tödlichen Auseinandersetzungen beteiligt hat, konnte sein Erbgut dreimal häufiger weitergeben als jene Männer, die der kulturellen Regel nicht gefolgt sind.
 
Dieser sich aus den Lebensdaten der Yanomami ergebene Befund eines Zusammenhangs von kulturellem und reproduktivem Erfolg ist durchaus generalisierbar. Auch in anderen egalitären Gesellschaften, also in solchen, deren Sozialsysteme nicht auf Besitz gründen, konkurrieren Menschen um gesellschaftlich anerkannte und privilegierte Positionen (zum Beispiel den Häuptlingsstatus). Diese wiederum gehen im Durchschnitt mit einem erhöhten Erfolg bei der Reproduktion einher. Für die Yanomami hat Chagnon in dieser Hinsicht folgende Zahlen ermittelt: 35-jährige Häuptlinge haben im Mittel 8,6 Kinder gezeugt, Nicht-Häuptlinge gleichen Alters mit 4,2 Kindern hingegen nur knapp die Hälfte.
 
Der Zusammenhang zwischen der Stellung im sozialen Ranggefüge und dem durchschnittlichen Erfolg bei der Reproduktion ist besonders gut in vormodernen bäuerlichen Gesellschaften untersucht worden, deren Sozialstrukturen sich gut in den Kategorien von Land- oder Viehbesitz beschreiben lassen. Ob bei den Kipsigis und Mukogodo Kenias, den Bauern Ruandas, den Turkmenen Irans, den Bakkarwal in Kaschmir, den Bewohnern des Ifaluk-Atolls in Mikronesien oder Trinidads in der Karibik, den Utah-Mormonen, den Amish People oder englischen, norwegischen, schwedischen oder ostfriesischen Landbevölkerungen des 18. und 19. Jahrhunderts: Regelmäßig korreliert Besitz mit genetischer Fitness — kultureller Erfolg mit reproduktivem Erfolg.
 
Dabei kann diese Korrelation je nach ethnohistorischem Kontext über eine jeweils unterschiedliche Gewichtung einzelner Komponenten des Reproduktionserfolgs zustande kommen. Mal hängt die eheliche Fruchtbarkeit, mal die Säuglings- und Kindersterblichkeit stärker mit dem Sozialrang zusammen. Häufig entscheidet auch das unterschiedliche Vermögen, die erwachsen gewordenen Kinder gesellschaftlich vorteilhaft zu platzieren, über den langfristigen Reproduktionserfolg einer Familie. Als ein bedeutender Einfluss auf Fitnessunterschiede stellt sich zudem in allen daraufhin untersuchten Gesellschaften regelmäßig das dar, was man »Paarungserfolg« genannt hat. Sozial hochrangige Männer sind in Gesellschaften, die die Ehe eines Mannes mit mehreren Frauen erlauben (Polygynie), mit mehr Frauen verheiratet, haben (in polygynen und monogamen Gesellschaften) mehr außereheliche Affären, höhere Wiederverheiratungschancen nach Verwitwung oder Scheidung und heiraten die jüngsten und fruchtbarsten Frauen. All diese Effekte führen in ihrer Summe (wenngleich von Gesellschaft zu Gesellschaft in unterschiedlicher Weise und aus unterschiedlichen Gründen) regel- mäßig zu dem bemerkenswerten Phänomen eines unterschiedlichen genetischen Fortbestandes über die Zeit. Für die vormoderne Landbevölkerung in der ostfriesischen Krummhörn nördlich von Emden konnte man beispielsweise berechnen, dass 100 Jahre nach der Eheschließung eines sozial hochrangigen Großbauernpaares etwa doppelt so viel Genreplikate in der lokalen Bevölkerung vorlagen, wie 100 Jahre nach der Hochzeit eines Durchschnittspaares.
 
Erfolg in kultureller Konkurrenz ist demnach ein biologischer Selektionsfaktor, was mit einer weit reichenden Konsequenz verbunden sein könnte: Sofern Unterschiede im sozialen Ehrgeiz auch nur zu einem kleinen Teil auf genetische Unterschiede (etwa in den Persönlichkeits- oder Motivationsfaktoren) zurückgehen, kommt es durch die natürliche Selektion langfristig zu einer zunehmenden genetischen Fixierung des Dominanzstrebens in der gesamten Population. Die genetische Basis von Verhaltensneigungen, in gesellschaftliche Konkurrenz einzutreten und möglichst Erfolg zu haben, wird durch die Wirkweise der natürlichen Selektion mit überdurchschnittlicher Fitness belohnt. Für diese mikroevolutiven Prozesse spielt es überhaupt keine Rolle, wie die beteiligten Menschen ihre Konkurrenz vor sich selbst und gegenüber anderen begründen und auch nicht, um welche proximaten kulturellen Ziele sie konkurrieren — um Besitz, Status oder das Privileg der ersten Reihe in der Dorfkirche.
 
Soziale Konkurrenz als Spiegel genetischer Konkurrenz
 
Zum Verständnis menschlichen Verhaltens ist es aber nur von zweitrangigem Interesse, ob in den genannten Gesellschaften wirklich Verschiebungen der Genfrequenzen stattfinden, also Selektion abläuft, oder (was wahrscheinlicher sein dürfte) ob frühere Selektionsprozesse nicht schon längst zu einer genetischen Fixierung der Konkurrenzbereitschaft in allen Mitgliedern der Populationen geführt haben, vergleichbar mit der Zweibeinigkeit, Lungenatmung oder anderen Merkmalen, für die sich die Erbinformation nicht verändert. Entscheidend ist vielmehr, dass soziales Konkurrenzverhalten auf psychische Neigungen zurückgeht, deren genetische Basis in historischen Epochen immer wieder die ständige Prüfung durch die natürliche Selektion bestanden hat.
 
Weil aber nach soziobiologischer Theorie soziale Konkurrenz unter Menschen letztlich genetische Konkurrenz widerspiegelt, sollte man gemäß der Theorie von der Verwandtenselektion erwarten, dass Konflikte von den genetischen Verwandtschaftsverhältnissen der Protagonisten mitbeeinflusst werden. Danach sollte — unter sonst gleichen Bedingungen — Konkurrenz mit dem Grad der Blutsverwandtschaft unter den Beteiligten abnehmen. Ein möglicher Gewinn aus einer Konkurrenzsituation wird je nach Verwandtschaftsgrad anteilig vermindert, wenn der Verlierer durch gemeinsame Abstammung identische Genkopien trägt. Der direkte Fitnessgewinn wird per saldo durch Verluste an indirekter Fitness geschmälert. Wenn also Verwandte miteinander konkurrieren, sollte der zu erwartende Gewinn außerordentlich groß sein, größer jedenfalls als in vergleichbaren Auseinandersetzungen mit Nichtverwandten.
 
Dass dies tatsächlich der Fall ist, lehrt das Beispiel der Wikinger, deren Geschichte in den Sagas festgehalten ist: Die Orkneyinga-Saga beschreibt die Geschichte der Wikinger-Herrscher auf den Orkney-Inseln vom 9. bis 12. Jahrhundert. Njals Saga handelt von den Beziehungen einiger isländischer Familien etwa um das Jahr 1000. Beide Quellen enthalten eine Fülle genealogischer Informationen, welche die Rekonstruktion der Verwandtschaftsverhältnisse (jedenfalls in den männlichen Linien) recht zuverlässig und in Übereinstimmung mit anderen historischen Quellen erlaubt.
 
Danach war das Leben der Wikinger äußerst konfliktträchtig. Njals Saga berichtet den gewaltsamen Tod von 31 der insgesamt 87 erwachsenen Männer innerhalb von nur 10 Jahren. Zwar haben sich auch enge Verwandte umgebracht, dann aber nicht aus trivialen Anlässen, etwa im Zusammenhang mit Saufgelagen, sondern — in perfekter Übereinstimmung mit den Voraussagen der Verwandtenselektionstheorie — nur bei höheren Gewinnerwartungen (etwa um eine Herrschaft für sich oder einen Sohn zu übernehmen). Auch die Blutgeldzahlungen, die die Angehörigen der Mordopfer traditionsgemäß von der Sippe der Täter als Entschädigung einfordern konnten, spiegeln verwandtschaftliche Erwägungen wider. Für einen getöteten Vater, Sohn oder Bruder konnte man 24 aurar erwarten. Für einen Vetter, mit dem man im Mittel ja nur halb so eng verwandt ist, wie mit einem Vater, Sohn oder Bruder, gab es entsprechend nur die Hälfte: 12 aurar. Für einen Vetter zweiten Grades, dessen Verwandtschaft sich noch einmal halbiert, 5,5 aurar, für einen Vetter dritten Grades 2,5 und für einen vierten Grades immerhin noch 1 aurar.
 
Soziale Konkurrenz spiegelt reproduktive Konkurrenz wider — kultureller Erfolg korreliert mit reproduktivem Erfolg. Die Lehre aus diesen soziobiologischen Einsichten hat der deutsche Anthropologe Christian Vogel folgendermaßen zusammengefasst: »An vielen Stellen geht biogenetische Evolution nahtlos in menschliche Kulturgeschichte über, bestimmt sie weiterhin und wird umgekehrt von ihr beeinflusst. Evolutionsbiologen sprechen gar von »funktioneller Identität« von biologischer und kultureller Evolution. .. Kultur ist eine Form von Angepasstheit an die Umweltbedingungen. Wir können ihre Regeln als Instruktionen auffassen, wie wir das Leben zu organisieren haben, um zu überleben — der alte biogenetische Konkurrenzkampf ums Überleben und um erfolgreiche Reproduktion mit neuen, mit den menschlichen Mitteln der Kultur!«
 
 Konkurrenz mit anderen - Fremdenhass und Krieg
 
Biologische Evolution hat immer zugleich einen historischen und einen kausalen Aspekt. Der historische Aspekt zeigt sich in der Stammesgeschichte der Organismen und — als direkte Folge davon — in homologen Merkmalsausprägungen. So kommt es aufgrund der gemeinsamen Abstammung zu einer jeweils nach Verwandtschaftsnähe abgestuften Ähnlichkeit zwischen uns und unseren tierlichen Verwandten.
 
Kriegerische Auseinandersetzungen bei Schimpansen
 
Homologien zeigen sich auch im Verhalten, genauer in den Mechanismen der Verhaltenssteuerung. Vielleicht auch deutlicher als in anderen Verhaltensbereichen, vor allem aber auf eine bedrückende und beklemmende Weise, zeigt sich die Verwandtschaft zwischen Schimpansen und Mensch in der innerartlichen Aggression. So beobachteten die bekannte britische Schimpansenforscherin Jane Goodall und ihr Team eine gewalttätige Szenerie unter den Schimpansen des Gombe-Nationalparks am Ostufer des Tanganjikasees in Tansania. Goodall beschreibt, wie sich über mehrere Jahre aus der von ihr untersuchten ursprünglich 45 bis 60 Individuen umfassenden »Kasakela-Population« eine kleinere Gruppe zunächst fast unmerklich, dann aber endgültig abzuspalten begann. Diese Trennung markiert den Beginn eines überaus gewalttätigen fünfjährigen Konflikts, an dessen Ende die separatistische Teilgruppe nicht mehr existierte.
 
Während es in den ersten Jahren nach der Trennung zwischen den ehemals gemeinsam lebenden, nunmehr aber sozial getrennten und benachbarten Tieren zwar zu aufgeregten, aber nicht handgreiflichen Kontakten kam, begann später ein regelrechter Ausrottungskampf gegen die abtrünnigen Dissidenten. In mehreren Kriegszügen drangen einige der Kasakela-Schimpansen in das Streifgebiet ihrer neuen Nachbarn ein, isolierten jeweils ein Individuum von seiner Gemeinschaft und verfolgten und misshandelten es jeweils auf eine äußerst brutale Art und Weise. Der »Krieg der Schimpansen« ist mit folgenden Worten beschrieben worden: »Im Februar 1974 drangen die Kasakela-Brüder Jomeo und Sherry mit einem dritten Männchen, Evered, und dem Weibchen Gigi ins südliche Feindesland vor. Es gelang ihnen, den Kahama-Mann Dé von seiner Gruppe zu isolieren. Zwar versuchte Dé schreiend durch die Bäume zu entkommen, wurde aber von den Brüdern verfolgt, bis ein Ast unter ihm brach und Jomeo ihn an einem Bein zu Boden zerren konnte. Die vier Angreifer schlugen und traten wieder und wieder auf ihr Opfer ein und rissen mit Zähnen Hautfetzen von seinem Bein. Als Dé zwei Monate später zum letzten Mal gesehen wurde, glich er einem abgemagertem Gerippe voller unverheilter Wunden. Es besteht kein Zweifel, dass er dann gestorben ist.«
 
Am 14. September 1974 ging es gegen Madame Bee. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Jane Goodall konnten beobachten, wie Jomeo und Figan auf dem verkrüppelten alten Weibchen herumstampften. »Madame Bee versuchte sich aufzurichten. Sie zitterte am ganzen Leib, war aber zu sehr angeschlagen und außer Atem, um noch schreien zu können. Satan und Figan malträtierten sie, bis sie sich nicht mehr rührte und die Beobachter sie für tot hielten. Jomeo stemmte Madame Bee nun hoch, schmetterte sie zu Boden und kugelte sie den Hang hinunter. Mit gesträubtem Fell trommelte Satan auf ihr herum und rüttelte so lange Äste gegen sie, bis Madame Bee sich wieder bewegte und mit letzter Kraft in ein Gebüsch kroch. .. Sie starb fünf Tage nach diesem Überfall.« Während der fünf Jahre dieses Konflikts wurden mindestens sechs Tiere der Separatistengruppe angegriffen und auf ähnlich grausame Art und Weise ums Leben gebracht, bis schließlich die Nachbarn komplett ausgerottet beziehungsweise vertrieben waren und die Sieger mit ihren Familien das neu hinzugewonnene Streifgebiet vereinnahmen konnten.
 
Das geschilderte und ähnlich auch in anderen Schimpansenpopulationen beobachtete Verhalten weist einige Merkmale auf, die für die Frage nach der spezifischen Evolution menschlicher Gruppenkonflikte von einigem Interesse sein dürften.
 
1) Das Ergebnis eines Konflikts hängt entscheidend von der Größe und der Zusammensetzung der beiden aufeinander treffenden Gruppen ab und nicht vom Ort des Zusammentreffens, wie dies in den typischen Territorialauseinandersetzungen anderer Wirbeltiere der Fall ist. So kann eine zahlenmäßig größere Schimpansengruppe eine kleinere auch auf deren eigenem Territorium in die Flucht schlagen. Es gibt also keinen »Heimvorteil«.
 
2) Von Mal zu Mal können sich andere und verschieden viele Individuen (typischerweise heranwachsende und voll erwachsene Männchen) an den Gruppenbegegnungen beteiligen. Deshalb bleibt auch nach wiederholtem Aufeinandertreffen das Kräfteverhältnis zweier benachbarter Gruppen weitgehend ungeklärt, was soziale Geplänkel und Scharmützel geradezu provoziert. Die Bühne für aggressive Auseinandersetzungen wird noch dadurch bereitet, dass sich die Streifgebiete benachbarter Gruppen zu einem nicht unerheblichen Teil überlappen. Schimpansen schaffen so erst Gelegenheiten für Gruppenkonflikte und versuchen diese zu nutzen, indem sie sich möglichst dicht vermeintlich schwächeren Kontrahenten zu nähern versuchen, um dann den gesuchten Kampf auch auszutragen. Im Gegensatz zu anderen Wirbeltieren mit klassisch ausgeprägter Territorialität, ist bei Schimpansen die Lösung einer sozialen Konfrontation durch Kampf geradezu vorprogrammiert und nicht etwa rituell abgedämpft.
 
3) Der bemerkenswerteste Unterschied zu den sich letztlich doch eher friedlich arrangierenden territorialen Wirbeltieren besteht in der tief reichenden Feindseligkeit zwischen Nachbargruppen und die sich daraus ergebene Gewalttätigkeit ihrer Kämpfe. Die Brutalität der Schimpansenkämpfe ist im Tierreich ohnegleichen und findet nur bei Menschen eine Parallele. Jane Goodall meinte sogar: »Wenn sie Feuerwaffen gehabt hätten und jemand hätte ihnen beigebracht, damit umzugehen — ich vermute, sie würden sie zum Töten benutzt haben.«
 
Gruppenfremde Eindringlinge werden nicht einfach vertrieben, wie das sonst unter Wirbeltieren die Regel zu sein scheint, sondern massiv angegangen und verletzt, was nicht selten zum Tod der Opfer führt. Mehr noch: Schimpansen organisieren überfallartige Raubzüge in die Kerngebiete ihrer Nachbarn, und auch diese Unternehmungen können mit dem Tod der Überfallenen enden. Hier geht es nicht um die Verteidigung eines angegriffenen Territoriums, sondern um seine gewaltsame Vergrößerung auf Kosten schwächerer Nachbarn.
 
Damit wird deutlich, dass Konrad Lorenz in seiner Analyse des »Sogenannten Bösen« in zumindest zwei Punkten irrte. Erstens sind tödliche Gruppenkonflikte nicht auf den Menschen beschränkt und zweitens resultiert ihre Motivation nicht einzig aus der Territorialverteidigung. Den Schimpansenkämpfen gehen häufig provozierende Invasionen in fremde Wohngebiete voraus, und im deutlichen Unterschied zu Territorialauseinandersetzungen scheint es bei den Überfällen der Schimpansen eine regelrechte Verletzungs- oder gar Tötungsabsicht zu geben. In der Regel werden im Tierreich Rivalenkämpfe geführt, um zu gewinnen, nicht um den Gegner zu verletzen oder zu töten. Wird das persönliche Kampfrisiko zu hoch, kann ein Opponent aufgeben und sich zurückziehen. Damit ist der Streit beendet. Bei Schimpansen geht es dagegen nicht um Vertreibung eines territorialen Eindringlings, sondern letztlich um die Vernichtung von Nachbarn und Konkurrenten.
 
Schimpansenkonflikte haben einen funktionellen Hintergrund. Zwar ist vordergründig ein ständiges Bemühen um Monopolisierung von Nahrungsressourcen der entscheidende Motor, der aggressive Auseindersetzungen zwischen benachbarten Gruppen antreibt. Eigentlich versuchen Männchengruppen jedoch nicht nur deshalb ihr Territorium zu vergrößern, um selbst in den Genuss des vermehrten Ressourcenangebots zu kommen, sondern sie tun dies vornehmlich aus Gründen sexueller Konkurrenz. Unter Schimpansen bilden Männchen das sesshafte Geschlecht, während Weibchen ihre Geburtsgruppe verlassen. Auf ihren Wanderungen bleiben Letztere (gegebenenfalls mit ihrem abhängigen Nachwuchs) meist allein und vermeiden so eine Nahrungskonkurrenz untereinander. Je größer und reichhaltiger nun das von den Männchen beherrschte Gebiet ist, desto mehr Weibchen werden sich bevorzugt in ihm aufhalten, desto mehr Vorteile ergeben sich also für die »Platzhalter« in der Männerkonkurrenz um Weibchen. Übrigens sind wegen ihrer Ortstreue die kooperierenden Männchen einer Gemeinschaft mit einiger Wahrscheinlichkeit Brüder, Halbbrüder und Vettern, während sie mit den Männchen ihrer Nachbargruppen in der Regel nicht unmittelbar verwandt sind.
 
Nach der Lektüre von Jane Goodalls Schilderungen dürfte auch der kritischste Leser kaum mehr gegen die sich unweigerlich aufdrängende Assoziation gefeit sein, dass es sich bei den Gruppenkämpfen unter Schimpansen um stammesgeschichtliche Vorformen dessen handeln könnte, was wir alltäglich an kollektiver Gewalt um uns herum wahrnehmen. Jedenfalls zeigen sich in der Psyche unserer nächsten Verwandten Merkmale, die durchaus als Prädispositionen für die Evolution menschlicher Gruppenkämpfe gelten können: die mentale Fähigkeit zur Planung kooperativer Unternehmungen, eine innere Aversion gegenüber Gruppenfremden und ein »Interesse« an Gruppenkämpfen. Jane Goodall konnte beobachten, wie aggressive Auseinandersetzungen die Aufmerksamkeit und Anteilnahme derjenigen weckt, die zunächst nicht daran beteiligt waren. Vom Anblick gewalttätigen Geschehens geht offensichtlich eine spezifische Attraktivität aus, die besonders für junge Männchen anziehend wirkt. Schließlich ist bei den Kämpfen ein doppelter Verhaltensstandard zu beobachten. Aggression innerhalb von Gruppen spielt sich anders ab als Aggression zwischen Gruppen. Fremde Kontrahenten werden eher wie Beutetiere behandelt. Goodall spricht in diesem Zusammenhang von einer »Deschimpansierung« des Gegners und sieht darin deutliche Parallelen zu der menschliche Auseinandersetzungen so häufig begleitenden psychologischen Abwertung bis hin zur »Dehumanisierung« des jeweiligen Gegners, was bekanntlich psychische Hemmschwellen gegen eine Eskalation von Gewalt abbauen kann.
 
Evolution menschlicher Gruppenkonflikte
 
Beschränkt man den Vergleich auf jene Streitereien, die sich auf der Ebene von Wildbeutergesellschaften abspielen, also auf jenes soziologische Milieu, das 99,5 Prozent unserer Stammesgeschichte gekennzeichnet hat und in dem sich die entscheidenden Verhaltensanpassungen der Menschheit vollzogen haben, zeigen sich nicht nur in den psychologischen Mechanismen, sondern auch in der sozioökologischen Funktionalität kollektiver Aggression deutliche Parallelen zu den geschilderten Schimpansenverhältnissen. Zwar erschwert die ethnische und historische Vielfalt von kriegerisch ausgetragenen Stammeskonflikten tragfähige Generalisierungen, doch kommt nach dem gegenwärtigen Wissensstand den sozioökologischen Theorien der Kriegsentstehung der umfassendste Erklärungswert zu.
 
Was immer auch ganz unmittelbar auf psychologischer und kultureller Ebene Stammeskriege schürt — etwa ein ungebremster Heldenethos machomäßiger Männer — so gilt in letzter Analyse doch die Schlussfolgerung des amerikanischen Anthropologen Marvin Harris: »Kriegerische Auseinandersetzungen sind in diesen Gesellschaften [gemeint sind Wildbeuter- und Pflanzergesellschaften] so gut wie immer Ausdruck des Bemühens, einen gefährdeten Lebensstandard mithilfe des Zugangs zu neuen Ressourcen, ertragreicheren Lebensräumen oder Handelsrouten zu sichern oder zu verbessern. Krieg lässt sich daher am besten als eine tödliche Form des Konkurrierens autonomer Gruppen um knappe Ressourcen verstehen.« Dieses Zitat muss jedoch ergänzt werden: Die Liste der umkämpften Güter umfasst keineswegs nur Territorien, Nahrungsvorräte oder andere materielle Ressourcen, sondern kann gegebenenfalls auch Frauen oder sozialen Status beinhalten, wenn deren Knappheit den Reproduktionserfolg einer ethnischen Gruppe gefährdet.
 
Für solch eine Interpretation des Kriegsgeschehens ist es zunächst unerheblich, wie die Krieger selbst ihr Tun beurteilen und kulturell bewerten. Selbstverständlich kann kollektive Aggression vordergründig aus einer ideologischen, religiösen oder mystischen Rechtfertigung hervorgehen und gleichzeitig entscheidende sozioökologische Vorteile im alltäglichen Überlebenskampf erbringen. Die extrem kriegerischen südamerikanischen Mundurucu führen nach ihrem kulturellen Selbstverständnis ihre Ausrottungsfeldzüge gegen die Nachbarn aus Gründen der Ehre und sehen sich einzig durch die heimgeführten Siegestrophäen, die abgeschlagenen Köpfe ihrer Opfer, belohnt. Bei den Kämpfen der Mundurucu geht es weder um Frauen, noch um Land, noch um bewegliche materielle Kriegsbeute, sondern allein um den immateriellen Gewinn an Ehre und Ansehen, der mit Tapferkeit und Erfolg in den Blutfehden erzielt werden kann.
 
Soziobiologische Theorien schienen in diesem Beispiel zu versagen, weil nicht erkennbar war, mit welchen angeblichen Vorteilen die gegenseitige Tötung von Nachbarn verbunden sein sollte, bis eine erneute Analyse des ethnographischen Materials einen zunächst nicht beachteten Zusammenhang ans Licht förderte: Die gegenseitige Dezimierung der Mundurucu vermindert den Jagddruck auf die Pekaris, eine kleine Wildschweinart, die als wichtigste, aber immer knappe Proteinlieferanten der begrenzende Faktor für die Lebens- und Fortpflanzungsmöglichkeiten der Mundurucu ist. Eine zunehmende Bevölkerungsdichte droht diese wertvolle Ressource zu erschöpfen, durch die Vernichtung beziehungsweise die Vertreibung der benachbarten Konkurrenten hingegen kann sie sich erholen. Diesen Zusammenhang sehen die Mundurucu nicht, wenngleich sie ihn vielleicht erahnen: Sie sind davon überzeugt, dass die Kopftrophäen einen magisch-günstigen Einfluss auf das Pekari-Jagdglück ausüben. Dieses Beispiel zeigt, wie die letztlich verhaltensökologischen Zusammenhänge kollektiver Gewalt von den Handelnden überhaupt nicht korrekt erkannt sein müssen und in ihren Motiven überhaupt keine Rolle zu spielen brauchen, um dennoch die Zweckrationalität menschlichen Verhaltens auszumachen.
 
Fazit: Gewalttätige Gruppenkonflikte kommen also nicht nur bei Menschen vor, sondern auch im Tierreich, in besonders ausgeprägter Form bei unseren stammesgeschichtlichen Vettern, den Schimpansen. In ihrer Affektstruktur und Brutalität, in Motivation, Entstehungskontext und Funktion ähneln deren Gruppenkämpfe auf verblüffende Art und Weise den menschlichen Verhältnissen. Es spricht also einiges dafür, dass die menschliche Bereitschaft zu kollektiver und koordinierter Aggression gegen Gruppenfremde eine stammesgeschichtliche, also eine biologische Grundlage hat. Dass aus dieser Einsicht kein Plädoyer für fatalistische oder gar rechtfertigende Einstellungen gegenüber Ethnokonflikten abgeleitet werden kann, sollte aus dem bisher Ausgeführten zu den Prinzipien menschlichen Verhaltens klar geworden sein.
 
Ethnozentrismus und Fremdenfeindlichkeit sind demnach Verhaltenstendenzen, deren Entstehung sich durchaus mit der Wirkweise der biologischen Evolution erklärt, genauso, wie jene diskriminierende Ethik, die der russische Ethnologe Kulischer bereits vor über einem Jahrhundert beschrieb: »Aus allen bisher angeführten Tatsachen leuchtet hervor, dass auf den primitiven Kulturstufen und auch noch später zwei diametral entgegengesetzte Sittensysteme sich geltend machen. Das erste umfasst die Angehörigen einer Gemeinschaft und regelt die Verhältnisse der Mitglieder derselben gegeneinander. Das andere beherrscht die Handlungsweise der Mitglieder jeder anderen. Das erste schreibt Milde, Güte, Solidarität, Liebe und Frieden vor, das andere — Mord, Raub, Hass, Feindschaft. Das eine gilt für die Zugehörigen, das andere — gegen die Fremden«. Was Kulischer 1885 mit »Dualismus der Ethik« überschrieb, wurde später vom russischen Revolutionär und Anarchisten Peter Kropotkin und neuerlich vom deutschen Anthropologen Christian Vogel als »doppelte Moral« der Menschen beklagt. Gemeint ist damit jenes sozialpsychologisch überaus vielschichtige Phänomen, in dessen Folge es zu Ethnozentrismus, Fremdenhass, Intoleranz und Gruppengewalt kommt und das auf einer wie im Einzelfall auch immer psychologisch oder kulturell definierten und aufrechterhaltenen Gruppenidentifikation basiert.
 
 Was Lebensgemeinschaften zusammenhält - Kooperation und Altruismus
 
Nun besteht bekanntlich die menschliche Geschichte keineswegs nur aus einem ständigen Hauen und Stechen, sondern auch aus Kooperation und Altruismus. Zeigt nicht allein schon diese alltägliche Beobachtung, dass das menschliche Miteinander nicht so grundsätzlich und umfassend durch Konkurrenz bestimmt sein kann, wie es evolutionstheoretisch zu erwarten wäre? Die Antwort lautet »Nein«, denn genetische Konkurrenz äußert sich keineswegs zwangsläufig in offenem Wettbewerb, sondern auch in kooperativen und unter Umständen sogar in altruistischen Strategien (also solchen, die mit persönlichen Nachteilen verbunden sind, aber anderen Individuen nützen).
 
Kooperation wird durch die natürliche Selektion direkt verstärkt, wenn Verhaltensziele gemeinschaftlich leichter oder effizienter erreicht werden können als alleine. Im Tierreich besteht eine einfache Form kooperativen Verhaltens beispielsweise in der Schwarmbildung. Alle Schwarmmitglieder profitieren im Durchschnitt von ihrem Zusammenschluss, weil das ihr persönliches Risiko, Beuteopfer zu werden, merklich verringert. Letztlich können Sozialstrukturen grundsätzlich als kooperative Systeme aufgefasst werden, denn häufig ermöglicht unter bestimmten ökologischen Bedingungen erst eine soziale Lebensweise den Erfolg persönlicher Selbsterhaltungs- und Reproduktionsinteressen.
 
Aber auch in einem engeren Sinn ist kooperatives Verhalten im Tierreich nicht selten. Innerhalb der Sozialverbände beobachtet man häufig kooperatives Verhalten einzelner Mitglieder, das auf individualisierten Beziehungen gründet (vor allem bei der Jagd, dem Paarungsverhalten und der Jungenaufzucht). Es setzt voraus, dass die Individuen in der Lage und motiviert sind, ihr Verhalten gleichzeitig und koordiniert auf ein gemeinsames Ziel hin auszurichten. Solange alle Beteiligten im gleichen Maße von gemeinsamen Unternehmungen profitieren, entsteht aus evolutionsbiologischer Sicht kein Erklärungsnotstand. Gewisse sozioökologische Probleme lassen sich im Verband besser begegnen als einzeln, und der gemeinsame Gewinn verteilt sich auf alle gleich. Häufig wird menschliches Kooperieren derselben Funktionslogik gehorchen, was ja auch weit verbreiteter Alltagserfahrung entspricht. Es stimmt schon: »Der wahre Egoist kooperiert«, wie es der Anthropologe Christian Vogel so knapp wie treffend auf den Punkt brachte.
 
Verwandtenselektion
 
Interessanterweise kann unter gewissen Umständen genetisch eigennützig auch ein solches Verhalten sein, das auf der psychologischen Ebene, und auch nach der Selbstwahrnehmung der betreffenden Individuen als uneigennützig, selbstlos oder sogar aufopfernd erscheinen mag. Gemeint sind damit Verhaltensweisen, die mit Nachteilen für die persönlichen Lebens- und Fortpflanzungschancen verbunden sind, also letztlich die persönliche Fitness verringern, gleichzeitig aber die Fitness anderer fördern (von den Fachleuten wird solch ein Verhalten als »phänotypischer Altruismus« bezeichnet).
 
In der traditionellen Verhaltensforschung hat man die evolutive Entstehung solch samariterhafter Verhaltensweisen mit der Wirkweise einer vermuteten Gruppenselektion erklärt. Man nahm an, dass eine persönliche Selbstbeschränkung zugunsten der Population oder der Art in der natürlichen Selektion Bestand hätte, weil es in der Evolution letztlich nur um den biologischen Erfolg beziehungsweise Misserfolg miteinander konkurrierender Gruppen ginge. Das erscheint heutzutage allerdings aus theoretischen und empirischen Gründen wenig wahrscheinlich. Stattdessen hat sich herausgestellt, dass eine Selbstaufopferung zugunsten anderer unter bestimmten verwandtschaftlichen und ökologischen Voraussetzungen durchaus dem egoistischen Vermehrungsinteresse der eigenen Gene dienen kann. Diese Interessen liegen vor, wenn das augenscheinlich altruistische Verhalten im Durchschnitt zur verstärkten Vermehrung abstammungsgleicher Gene in verwandtschaftlichen Seitenlinien beiträgt. Den dafür verantwortlichen Evolutionsmechanismus nennt man Verwandtenselektion (kin selection).
 
Es gehört zu den kultur- und epocheübergreifenden Kennzeichen menschlicher Geschichte, verwandtschaftliche Beziehungen zu erkennen, sie differenziert zu benennen und im alltäglichen Verhalten zu berücksichtigen. Generationen von Anthropologen und Ethnologen haben sich darum bemüht, die vielfältigen und oftmals recht komplizierten Verwandtschaftssysteme der Völker zu verstehen und in ihrer Alltagsbedeutung für das jeweilige soziale Gefüge zu erkennen. Dabei wird zunehmend eine Konstante menschlichen Sozialverhaltens sichtbar: Das Verhältnis von Kooperation und Konkurrenz innerhalb einer Bevölkerungsgruppe wird ganz entscheidend von den verwandtschaftlichen Beziehungen ihrer Mitglieder geprägt. Die für die menschliche Geschichte so typischen Phänomene, zu einer Gruppe zu gehören oder nicht, sind dafür beredtes Zeugnis.
 
Nepotistischer Altruismus taucht in vielerlei Gewändern auf, so auch in der berühmten Geschichte der Pilgerväter. Als diese im September 1620 von England aus in die Neue Welt aufbrachen, waren sie nur schlecht auf das Abenteuer der Atlantiküberquerung und die Lebensbedingungen ihrer neuen Heimat vorbereitet. Von den 103 Passagieren der Mayflower überlebten nur 50 das erste Jahr, während 53 Personen an den Folgen dauerhaft unzureichender Ernährung und den krankmachenden Einflüssen des ungewohnten Klimas starben. Skorbut, Tuberkulose und Lungenentzündung waren häufige Todesursachen. Erst nach drei Jahren begann sich die Situation in der Plymouth-Kolonie zu entspannen. Der Weg in die erhoffte bessere Welt begann für die puritanischen Dissidenten mit einer furchtbaren Krise. Entsprechend war Solidarität gefordert, und die Notgemeinschaft half sich gegenseitig, so gut es ging: Die knappe Nahrung wurde rationiert und kontrolliert verteilt. Dennoch: Für 53 Menschen endete das Vorhaben tödlich.
 
Für unser Thema ist nun die Frage interessant, inwieweit die Solidarität in dieser Lebensgemeinschaft zu einer Gleichverteilung der Schicksalslast führte. Hatte das solidarische Verhalten geholfen, den Stress der Krisensituation und die daraus resultierende Todesbedrohung auf alle Schultern gleichmäßig zu verteilen? Oder war die Solidarität alles andere als »verteilungsblind«, sondern stattdessen hochgradig differenziert, je nach Person des Hilfsbedürftigen?
 
Die amerikanischen Humanbiologen John McCullough und Elaine York Barton sind dieser Frage nachgegangen, indem sie die Gruppe der Todesopfer mit der Gruppe der Überlebenden verglichen haben. Wenn Solidarität bedingungslos gewährt wurde, sollten sich die beiden Gruppen nicht systematisch unterscheiden. War sie hingegen selektiv, könnte der Vergleich vielleicht die Verteilungskriterien ans Licht fördern, nach denen unterschiedliche Hilfe angeboten wurde. Die Ergebnisse dieser Analyse sind nun überaus aufschlussreich. Das Überleben der Kinder war beispielsweise besonders bedroht, wenn ihre Eltern nicht mehr lebten. Von den 15 Kindern, um deren Wohlergehen sich noch mindestens ein Elternteil kümmern konnte, starb nicht ein Einziges; von den 16 Waisenkindern hingegen 8, also 50 Prozent! Woher rührte dieser Unterschied? Gab es etwa unter den strenggläubigen Puritanern der Mayflower eine »doppelte Moral der Solidarität«? Bedeutete für sie christliche Nächstenliebe letztlich doch nur profaner Nepotismus, hier manifestiert in fürsorglicher Liebe zu den eigenen, aber Gleichgültigkeit gegenüber fremden Kindern? Das scheint alles andere als ausgeschlossen, denn McCullough und Barton konnten nach detektivischer Kleinarbeit weiter nachweisen, dass die überlebenden Männer und Frauen des Desasters im Durchschnitt untereinander genetisch enger verwandt waren als die Gestorbenen. Offensichtlich gab es also »solidarische Seilschaften« — zusammengebunden durch Blutsverwandtschaft — die auf Kosten anderer mit der Krisensituation im Durchschnitt besser fertig werden konnten. Solidarität ist offensichtlich teilbar, und der genetische Verwandtschaftsgrad bildete in der Plymouth-Kolonie eine ganz wesentliche Messlatte für ihre Portionierung. Dieses Ergebnis scheint durchaus generalisierbar zu sein.
 
Dass altruistische Solidarität generell bevorzugt in Verwandtschaftsbahnen kanalisiert verläuft, ist für Anthropologen eine gut untersuchte Lehrbuchweisheit. Ob solidarische Hilfe bei der Adoption von Kindern, bei der Sicherung des Lebensunterhalts oder in aggressiven Auseinandersetzungen: Blutsverwandtschaft begünstigt Hilfe und Solidarität. Das ist nun absolut keine originär menschliche Errungenschaft. Auch nichtmenschliche Primaten sind ausgesprochene Nepotisten, wiewohl überhaupt alle sozial komplexer organisierten Lebewesen Verwandtenunterstützung kennen. Schweinsaffen helfen einander, wenn sie angegriffen werden. Das Muster der Pilgerväter-Solidarität wird erneut sichtbar: Je enger zwei Individuen miteinander verwandt sind, desto wahrscheinlicher unterstützen sie sich gegenseitig in ihren jeweiligen sozialen Auseinandersetzungen.
 
In dieser Beobachtung steckt der Schlüssel zum Verständnis eines langen Theorieproblems der Evolutionsbiologie. Darwin selbst konnte sich nicht erklären, wieso die natürliche Selektion nicht ganz konsequent gegen altruistische Tendenzen vorgeht. Das biologische Prinzip »Eigennutz« sollte eigentlich persönliche Selbstaufopferungen zugunsten Dritter nicht vorsehen. Erst die moderne Soziobiologie konnte dieses scheinbare Paradoxon mit der Einsicht auflösen, dass die biologische Evolution notwendigerweise ein genzentriertes Prinzip sein muss.
 
 
Die Entstehung altruistischer Verhaltenstendenzen lässt sich evolutionsbiologisch jedoch nicht nur mit den Fitnessvorteilen des Nepotismus erklären, sondern auch mit denen einer Wechselseitigkeit (Reziprozität), da die natürliche Selektion den Lebensreproduktionserfolg bewertet. Deshalb kann es sich in der Währung der genetischen Fitness, also in der Währung, in der die natürliche Selektion bilanziert, letztlich auszahlen, auch einem Nichtverwandten Gutes zu tun, wenn dieser sich bei anderer Gelegenheit mit wertvoller Hilfestellung revanchiert — und das um so mehr, je weniger Aufwand einem das Gute bereitet. Entscheidend für die Frage, ob sich Tendenzen der Wechselseitigkeit in der Evolution durchsetzen können, ist die Nettobilanz solcher Handlungen. Solange in der Lebensbilanz die Kosten für geleistete Hilfe geringer bleiben als der Nutzen, lohnt sich Wechselseitigkeit, und in der natürlichen Selektion wird solcherart altruistische Gegenseitigkeit bestärkt. Als besonders gut untersuchtes Beispiel gelten die mittelamerikanischen Vampirfledermäuse, deren Lebensstrategie ganz entscheidend auf Wechselseitigkeit beim Nahrungsteilen gründet; aber auch unsere nächsten lebenden Verwandten, die Menschenaffen, kennen Wechselseitigkeit und machen davon in verschiedenen sozialen Zusammenhängen Gebrauch.
 
Der niederländische Primatologe Frans de Waal und sein Team haben bei den im amerikanischen Yerkes Primate Center lebenden Schimpansen 4653 soziale Interaktionen protokolliert, bei denen Futter eine Rolle spielte. Die Hälfte der Ereignisse beinhaltete Nahrungstransfer, das heißt ein Schimpanse hat einem anderen Nahrung abgegeben. Bei der quantitativen Analyse dieser Transaktionen ist de Waal auf einen überaus bemerkenswerten Sachverhalt gestoßen: Die einzelnen Futter besitzenden Schimpansen waren sehr wählerisch in ihrer Bereitschaft, die Nahrung zu teilen. Einigen Tieren, die sich annäherten und um Futter bettelten, zeigten sie die kalte Schulter. Sie wendeten sich unfreundlich ab oder zogen das Futter näher an sich heran, sodass die bettelnden Habenichtse unverrichteter Dinge wieder abziehen mussten. Gegenüber anderen Tieren konnten sich dieselben Futterbesitzer hingegen äußerst großzügig zeigen und vorbehaltlos deren Teilhabe an der Mahlzeit erlauben.
 
Unter den neun erwachsenen Tieren dieser Gruppe war das Geben und Nehmen interessanterweise jeweils paarweise ausgeglichen: Die Häufigkeit, mit der Individuum A seine Nahrung mit Individuum B teilte, korrelierte positiv mit der Häufigkeit, mit der Individuum B seinerseits seine Nahrung mit Individuum A teilte. Der Nahrungstausch erfolgte also in durch individualisierte Reziprozität geregelten Bahnen. Die Wechselseitigkeit der Schimpansen hat darüber hinaus einen weiteren interessanten Aspekt: Die sich gegeneinander aufwiegenden altruistischen Handlungen können durchaus verschiedenen Funktionskreisen entstammen. Nahrungstoleranz kann beispielsweise durch »Dienstleistungen« etwa bei der Fellpflege oder als Unterstützung bei machtorientierten sozialstrategischen Maßnahmen erwidert werden, und Bonobos handeln Nahrung gegen Sex. Damit ist bereits bei den Menschenaffen angelegt, was in der Kulturgeschichte der Menschen so ungeheuer wichtig werden sollte: Tausch.
 
Auch die Nahrungsbeschaffungsstrategien der Wildbeuter liefern eine Bühne, auf der häufig Gelegenheiten zu wechselseitiger Hilfestellung entstehen. Beispielsweise kostet es einem erfolgreichen und gesättigten Jäger vergleichsweise wenig, seinem glücklosen und deshalb hungrigen Nachbarn von der erlegten Beute abzugeben. Wohl aber kann sich dieser kleine Gefallen um ein Vielfaches auszahlen, wenn das Jagdglück sich wendet (und das tat es häufig unter Wildbeuterbedingungen, auf die wir genetisch zugeschnitten sind).
 
So ist es evolutionstheoretisch absolut plausibel, dass ein Yanomami-Indianer in den Regenwäldern im südlichen Venezuela wohl gar nicht erst auf die Idee kommt, den erlegten 17 kg schweren Pekari nur innerhalb der eigenen Familie verzehren zu wollen. Jagen ist ein unsicheres Geschäft. Zu selten und sehr unregelmäßig kommt es vor, dass ein Jagdausflug mit so großer und eiweißreicher Beute endet, denn in fast der Hälfte seiner Exkursionen muss ein Yanomami-Jäger mit leeren Händen ins Dorf zurückkehren. Fischen zu gehen, ist hingegen nicht ganz so unwägbar, und wer Früchte und Beeren sammelt, wird praktisch immer etwas Essbares finden. Auch die Erträge des Anbaus von Mehlbananen durch die Yanomami zeigen kaum zufällige Unterschiede zwischen den Familien. Ein Tag Gartenarbeit lohnt sich für alle Gärtner gleich. Ein Tag lang Pekaris zu jagen, lohnt sich meistens nicht, gelegentlich aber eben doch. Wann welcher Jäger dabei erfolgreich sein wird, ist allerdings unberechenbar. Demnach ist das Risiko des Misserfolgs je nach Strategie zur Nahrungsbeschaffung gestaffelt. Dem entspricht statistisch signifikant nachweisbar eine Staffelung in der Bereitschaft, selbst erwirtschaftete Nahrungsressourcen mit anderen außerhalb der eigenen Familie zu teilen. Je schwankender und unvorhersehbarer eine Nahrungsquelle, desto eher kommt es zum Teilen. Während vom Pekari praktisch immer abgegeben wird, geschieht das beim Fisch schon seltener und kaum mehr bei den Früchten der Gartenarbeit, für deren Ertrag jede Familie selbst die Verantwortung trägt. Das Teilen von Nahrung puffert die Veränderlichkeit des persönlichen Lebensrisikos erheblich ab. Wildbeuter und einfache Pflanzergemeinschaften wie die Yanomami können in diesem Sinne als eine Solidargemeinschaft verstanden werden, nur diese Form der altruistischen Solidarität maximiert langfristig den ganz persönlichen Vorteil jedes einzelnen Beteiligten. Wenn hingegen der Nettovorteil nicht mehr erkennbar ist, wie in diesem Beispiel bei einem denkbaren Teilen der Gartenbauerträge, wird altruistische Solidarität weniger wahrscheinlich.
 
Fazit: Auch wenn Menschen kooperieren oder sich sogar altruistisch verhalten, konkurrieren sie letztlich um genetische Fitness. In der Geschichte des Gebens und Teilens gibt es keinen einzigen Akteur, der durch die biologische Evolution zu einem wahrhaftigen genetischen Altruisten geformt worden wäre.
 
 Vom Sein zum Sollen
 
Die Bereitschaft zu altruistischer Hilfe läuft ständig Gefahr, ausgebeutet zu werden, sei es, weil sich aus welchen Gründen auch immer zu selten Gelegenheiten zur wechselseitigen Unterstützung ergeben, oder sei es, weil einige Betrüger es geradezu darauf anlegen, dem Altruisten die Rückzahlung zu verwehren. In Anbetracht der latenten Gefahr der Einseitigkeit wird wechselseitiger Altruismus deshalb umso wahrscheinlicher entstehen, je häufiger und regelmäßiger vertraute Partner miteinander sozial zu tun haben und je schwieriger und kostspieliger es für potenzielle Betrüger wird, zwar den Nutzen der Altruisten für sich zu beanspruchen, sich aber selbst der altruistischen Gegenleistung zu entziehen.
 
Unter gewissen Umständen mag es sich lohnen — der Vorteil muss nur groß genug sein — die gewohnte wechselseitige Unterstützung opportunistisch aufzukündigen und stattdessen eine betrügerische Strategie zu verfolgen. Wechselseitige Altruisten sind ja keine Heiligen, also genetisch wahrhaftige Altruisten, sondern »Gen-Egoisten«, die sich in einem auf vorteilhaftem gegenseitigen Tausch basierenden Sozialgefüge im Laufe der Evolution entwickelt haben. Sie können von Natur aus wenig motiviert sein, Chancen auf einen Extragewinn ungenutzt verstreichen zu lassen. Daher ist zu erwarten, dass jede mögliche Chance (wenn möglich risikoarm) zu mogeln, auch tatsächlich zur persönlichen Vorteilnahme ausgenutzt wird. Ein von seiner Gemeinschaft unbeobachteter Schimpanse wird der Logik des darwinschen Prinzips gehorchend weniger wahrscheinlich seine Jagdbeute mit anderen teilen, als ein Tier im Zentrum der sozialen Aufmerksamkeit.
 
Wenngleich die Schimpansen des Yerkes Center sich im Allgemeinen sehr friedlich ihre Nahrung teilten, kam es hin und wieder doch einmal zu einem aggressiven Schlagabtausch zwischen Angebetteltem und Bettler. Opfer der Aggression waren dann überdurchschnittlich häufig die sonst eher geizigen Schimpansen, die mit futterneidischer Attitüde am liebsten alles selbst gefressen hätten. Andererseits wurde den generösen Tieren ziemlich sicher selbst Generosität entgegengebracht, wenn sie ihrerseits eine Teilung der Nahrung anmahnten. Weil aber die Korrelation zwischen Aggression und dem sie auslösenden Geiz auf Verhaltensweisen beruht, zwischen denen eine beachtliche Zeitspanne gelegen haben konnte, müssen Schimpansen über ein soziales Langzeitgedächtnis verfügen, das sehr genau die sozialen Handlungen dauerhaft speichert und bilanziert. Demnach scheint es ganz so, dass Schimpansen aggressiv reagieren, wenn die offensichtlich erwartete Wechselseitigkeit der sozialen Beziehungen aus der Balance zu geraten droht. Schimpansen haben damit offenbar eine Sperre entwickelt, die verhindert, dass es leicht zu vermehrter einseitiger Vorteilsnahme durch Ausbeutung individueller Beziehungen kommen kann.
 
Menschliche Intelligenz ist primär soziale Intelligenz
 
Der amerikanische Biologe Robert Trivers hat diese Form aggressiven Verhaltens »moralistic aggression« genannt. Sie entsteht nicht, wie Aggression häufig sonst aus einer unmittelbaren emotionalen Reaktion auf frustrierendes Verhalten anderer, sondern häufig erst nach beachtlicher zeitlicher Verzögerung oder sogar erst nach einer langen persönlichen Interaktionsgeschichte mit einem Gruppenmitglied. Moralistische Aggression gründet deshalb besonders auf sozialer Kognition und dient dazu, Individuen zu bestrafen oder zu erziehen, die mehr zu bekommen versuchen, als sie zu geben bereit sind.
 
In dem gleichen Maße, wie die natürliche Selektion altruistische Tendenzen belohnt, wird sie parallel und ganz zwangsläufig die Entwick- lung günstiger Mechanismen zum bestmöglichen Schutz gegen Ausbeutung fördern. Deshalb entsteht ein Selektionsdruck für ein möglichst frühzeitiges und sicheres Erkennen von betrügerischen Regelbrechern. Tatsächlich konnte das amerikanische Psychologenehepaar Leda Cosmides und John Tooby mithilfe kognitionspsychologischer Experimente (den »Wason-selections-tasks«) sehr eindrucksvoll nachweisen, dass unser Wahrnehmungs-, Erkenntnis- und Denkapparat ganz speziell dazu eingerichtet ist, soziale Einseitigkeiten aufzuspüren. Menschliche Intelligenz ist primär soziale Intelligenz, und deshalb fällt es uns deutlich leichter, Abweichungen von sozialen Regeln als Regelverletzungen zu erkennen als logisch gleichartige Abweichungen von Regeln, die keinen sozialen Bezug haben. Kurz: Betrüger zu entlarven, gelingt uns leichter, als logisch zu denken.
 
Dieses hervorgehobene Vermögen wäre demnach keinesfalls im Zuge einer Evolution entstanden, die eine generelle, kontextunabhängige menschliche Intelligenz gefördert hätte, sondern es wäre vielmehr als ganz spezifische Anpassung an das »Schwarzfahrer-Problem« zu verstehen. Deshalb ist unsere Psyche auch ein soziales Kontrollorgan, nicht zuletzt dazu geschaffen, einseitige Egoismen unter den Mitmenschen aufzudecken und dadurch letztlich zu verhindern. Wechselseitigkeit wird überwacht und ständig bilanziert, und Abweichler sind einem entsprechenden sozialen Druck ausgesetzt. Das Sollen ist nun endgültig zur Welt gekommen, und seine Geburtshelferin war eine durch persönliches Eigeninteresse geleitete Wechselseitigkeit.
 
So wäre es beispielsweise für einen Yanomami nicht möglich, mit einem erlegten Weißbartpekari in sein Dorf zurückzukehren. Er müsste dann mit heftigem Tadel und Zorn seiner empörten Lebensgemeinschaft rechnen. Die Dorfbewohner reagieren so unfreundlich, da speziell diese Pekari-Art gewöhnlich in großen Gruppen mit bis zu über 100 Individuen durch den Wald streift. Kommt eine solche Herde in das Jagdgebiet einer Yanomami-Siedlung, was selten genug vorkommt, besteht deshalb Aussicht auf paradiesischen Überfluss. Genau dies stellt den Jäger, der die Herde als Erster entdeckt, vor ein Dilemma: Er könnte ein Tier erlegen, was ihn, seine Familie und einige Freunde sättigen würde. Allerdings würde das die Pekari-Herde ziemlich sicher verscheuchen. Oder er verzichtete auf schnelle Beute und nimmt stattdessen einen (möglicherweise anstrengenden und zeitraubenden) Rückweg in sein Dorf auf sich, um eine gemeinschaftliche Jagd zu initiieren. Letzteres wird gesellschaftlich konsequent angefordert. Der Informant gewinnt unmittelbar nichts durch seine Solidarität, wohl aber die Dorfgemeinschaft, weshalb sie bei der Jagd des Weißbartpekaris jede persönliche Vorteilsnahme moralisch sanktioniert.
 
Geschichte ist eine Begleiterscheinung biologischer Vorgänge
 
Wenn aber, aus welchen Gründen auch immer, soziale Kontrolle nicht greift, kommt es zu einem aus der Geschichte oft bekannten Problem: Menschen sind so eingerichtet, dass im Konflikt zwischen einem persönlichen Vorteil und dem Gemeinwohl mit größerer Wahrscheinlichkeit der blanke Egoismus siegt.
 
Für ein soziobiologisches Verständnis von der menschlichen Kulturgeschichte ist eine saubere Unterscheidung von Zweck und Mittel menschlichen Verhaltens unabdingbar. Wie alle anderen Organismen ist auch der Mensch vom biologischen Evolutionsprozess so geformt worden, sein persönliches Erbmaterial bestmöglich an die nachfolgenden Generationen weiterzugeben. Allein diesem biologischen Zweck dienen seine evolvierten Interessen und Präferenzen. Allerdings bedienen sie sich dabei der vielfältigsten Mittel, zu denen auch — eben typisch für uns Menschen — kulturelle Strategien gehören. Sie können, wie schon beschrieben, sowohl Kampf und Kooperation als auch Altruismus beinhalten.
 
So gesehen kann Geschichte gar nichts anderes sein als das Ergebnis des biologisch angepassten Designs von Menschen — unter Konkurrenzbedingungen geformt und deshalb letztlich Konkurrenz reproduzierend. Geschichte ist deshalb als Begleiterscheinung grundlegender biologischer Vorgänge zu verstehen. Damit sind grundlegende Elemente des menschlichen Geschichtsprozesses benannt. Zusammen definieren sie ein Koordinatensystem, innerhalb dessen Geschichte biologisch dimensioniert abläuft: Aus dem biologischen Imperativ erwachsen evolvierte Interessen und Präferenzen (etwa die Bereitschaft zu sozialer Konkurrenz), und die soziale Evolution hat konditionale Verhaltensstrategien und -mechanismen hervorgebracht, diese je nach Lebenszusammenhang bestmöglich umzusetzen. Das ist der Stoff, aus dem Geschichte ist.
 
Der bloße Hinweis auf diesen Stoff reicht jedoch nicht, um Geschichte umfassend zu erklären, genauso wenig wie die Backzutaten einen Kuchen hinreichend beschreiben. Je nach ethnohistorischem Kontext stehen den evolvierten Lebens- und Fortpflanzungsinteressen ganz unterschiedlich begrenzte Handlungsspielräume gegenüber, weshalb die biologisch angepassten Verhaltensstrategien und -mechanismen je nach Lebenszusammenhang zu ganz unterschiedlichem Verhalten führen. Menschliches Verhalten und seine Geschichte sind deshalb auf vielfältige Weise sozioökologisch beeinflusst, und das darwinsche Fitnessrennen, der Motor menschlicher Geschichtlichkeit, kann in sehr verschiedenartigen Bahnen verlaufen.
 
Der innere Zusammenhang von biologischer Evolution, Kultur und Geschichte ergibt sich aus ihrer Natur und Genese: Die Phylogenie der Primaten brachte die Kulturfähigkeit und die Geschichtlichkeit des Menschen hervor, und nach wie vor hat die menschliche Natur wesentlichen Anteil an Kultur und Geschichte der Menschheit. Je besser wir deshalb im Einzelnen die evolvierte Natur des Menschen verstehen, desto besser verstehen wir seine Geschichte, und je besser wir Geschichte kennen, desto zugänglicher wird uns die Natur des Menschen.
 
Prof. Dr. Eckart Voland
 
Weiterführende Erläuterungen finden Sie auch unter:
 
Geschlecht und Geschlechtlichkeit
 
 
Die Biologie des Sozialverhaltens. Einführung von Dierk Franck. Heidelberg 1988.
 Dahl, Edgar: Im Anfang war der Egoismus. Den Ursprüngen menschlichen Verhaltens auf der Spur. Düsseldorf u. a. 1991.
 Ekman, Paul: Weshalb Lügen kurze Beine haben. Über Täuschungen und deren Aufdeckung im privaten und öffentlichen Leben. Aus dem Englischen. Berlin u. a. 1989.
 Lindauer, Martin: Auf den Spuren des Uneigennützigen. Nutzen und Risiko des Zusammenlebens in der Natur. München u. a. 1991.
 Lorenz, Konrad: Das sogenannte Böse. Zur Naturgeschichte der Aggression. München 201995.
 Meyer, Peter: Evolution und Gewalt. Berlin u. a. 1981.Mohr, Hans: Natur und Moral. Sonderausgabe Darmstadt 1995.
 
Sociobiology and conflict, herausgegeben von Johan van der Dennen u. a. London u. a. 1990.
 Sommer, Volker: Lob der Lüge. Täuschung und Selbstbetrug bei Tier und Mensch. Taschenbuchausgabe München 1994.
 Vogel, Christian: Vom Töten zum Mord. Das wirkliche Böse in der Evolutionsgeschichte. München 1989.
 Waal, Frans de: Der gute Affe. Der Ursprung von Recht und Unrecht bei Menschen und anderen Tieren. Aus dem Amerikanischen. München u. a. 1997.
 Wickler, Wolfgang: Die Biologie der zehn Gebote. Warum die Natur für uns kein Vorbild ist. Neuausgabe München u. a. 1991.
 Wickler, Wolfgang / Seibt, Uta: Das Prinzip Eigennutz. Zur Evolution sozialen Verhaltens. Neuausgabe München u. a. 1991.
 Wright, Robert: Diesseits von Gut und Böse. Die biologischen Grundlagen unserer Ethik. Aus dem Amerikanischen. München 1996.
 Wuketits, Franz M.: Verdammt zur Unmoral? Zur Naturgeschichte von Gut und Böse. München 1993.

Universal-Lexikon. 2012.

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